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Newsletter 2023 Nr. 1

 

Braunfels, 23. März 2023

 

 

 

Newsletter 2023

 

 

Liebe Freunde der (französischen) Kultur,

 

Mein letzter Rundbrief datiert vom 22. April 2022, ich habe es verifiziert. Ich lese gerade, was ich damals schrieb. Staune über das, was ich damals schrieb und frage mich (immer öfter in der letzten Zeit), wo die Zeit geblieben ist.

Das Jahrhundert ist inzwischen volljährig geworden. Erwachsen ist die Welt deshalb noch lange nicht. Der Terror nimmt kein Ende: Anschläge, Katastrophen, Exodus ganzer Völker, eine Epidemie, die die Welt quasi drei Jahre lahm legt, alarmierende Pleiten, ein Krieg, den niemand in Europa für möglich gehalten hätte und dann noch eine Inflation der Superlative. Inflation auch an Gewalt, an Verboten, an Fake News und parallel dazu die Reformierung der Gesellschaft (um nicht von Vergewaltigung zu sprechen) mit einer Neuschreibung von den kulturhistorischen Spuren über die Sprache bis zur geschlechtlichen Identität hin. Das ist viel für ein noch so junges Jahrhundert.

Es nützt alles nichts. Wir müssen durch, denn wie Erich Kästner sagt:

Wir sitzen alle im gleichen Zug
Und reisen quer durch die Zeit
Wir sehen hinaus. Wir sahen genug
Wir fahren alle im gleichen Zug
Und keiner weiß, wie weit

Reisen wir dann, wenn schon, zur Gegenwart in spe, wie Kästner es suggeriert.

Gedanken zur Beobachtung unserer Zeit, die am Bestseller von Annie Ernaux „Die Jahre“ (2008) anlehnen. Annie Ernaux lässt darin ihre Zeit Revue passieren mit dem (wie ich bis jetzt meinte) unverwechselbaren Blick auf ihr Leben als Französin der Nachkriegsjahre.

Inzwischen kennt sie hierzulande (fast) jeder, nachdem sie vorigen Herbst den Nobelpreis für Literatur bekam. Aufgrund dessen bekam ich von einem treuen Kulturpartner-Team, dem Kulturbüro und der Frauenbeauftragten von Riedstadt, - der Partnerstadt übrigens von Brienne-le-Château, wo ich zur Schule ging!- den Auftrag, über sie zum diesjährigen Internationalen Frauentag zu referieren. Ich hatte im Jahr zuvor anlässlich desselben Events für denselben Veranstalter im Rahmen meines Programms „Frauenfragmente“ Auszüge aus ihrem Buch „La place“ vorgestellt. Mit großer Freude kam ich nun der Bitte nach. Ich liebe diese Schriftstellerin.

Es war ein Vergnügen, sich mit ihr zu befassen, all ihre Bücher zu lesen, obwohl sie alle sehr kurz sind, manchmal sogar extrem kurz. Normaler Weise lese ich keine Novellen (außer denen von Maupassant). Sie frustrieren mich. Ich habe keine Zeit, mich mit den Protagonisten der Geschichten anzufreunden, sie kennenzulernen, mich jeden Abend auf eine neue Begegnung mit ihnen im Voraus zu freuen, eine Beziehung zu ihnen aufzubauen. Novellen haben für mich daher null Reiz. Ich brauche Bücher von mindestens 400 Seiten, auf die ich mich jeden Abend neu freue. Ich lasse dafür jede Fernsehsendung sausen. Doch bei Annie Ernaux finde ich nicht nur sofort Zugang zu ihren Geschichten, auch sind sie in ihrer psychologischen Dichte so in sich geschlossen, dass sie mich zu packen und zu begeistern vermögen.

 

Bei dem erwähnten Vortrag im Büchner Haus, den man durchaus als gelungen bezeichnen darf, nicht nur weil er ausverkauft war, sondern weil die Zuhörer richtig mitgingen, stellte ich eine Frage an das Publikum, die mich sehr beschäftigte, nämlich:

„Kann man als Nicht-Franzose dem Buch „Die Jahre“ etwas abgewinnen?“

Für mich stand fest, es ist, wie ich oben schrieb, die soziologisch- ethnologische Bilanz einer typischen Französin, so sehr erzählt das Buch von Frankreich, von uns Franzosen, unserer Geschichte. Umso mehr verblüfften mich die Antworten. Eine deutsche Dame meinte, sie habe in Ernaux Buch auch einen Teil ihrer Geschichte wiedergefunden. Und eine im Publikum sitzende dänische Dame! bestätigte, dass auch sie sich im Buch wiederfand! Also gibt es eine Kollektivgeschichte der Frauen insbesondere und der Europäer im Allgemeinen.

Ja und im Grunde, wenn Annie Ernaux über die Eifersucht (köstlich „L´occupation“!) die Liebe, die Angst, das Schämen, den Tod (ihrer Mutter), die Trauer und den Verrat (an der sozialen Herkunft) u.s.w. schreibt, dann handelt es sich um universelle Gefühle der Gattung Mensch. Und wie sie darüber schreibt, so ehrlich und schonungslos, das macht diese Autorin so besonders lesenswert.

Dieser Rundbrief ist also zu einer Hommage an eine tolle Schriftstellerin, eine tolle Französin geraten. Ich habe mich einfach vom mitreißenden Fluss des Schreibens geleiten lassen, nicht wissend am Anfang, wo das mich hinführen würde.

Außer Annie Ernaux habe ich noch 50 andere Themen zu Frankreich, die sie auf meine Homepage www.suzannebohn.de finden. Und angehängt finden Sie die Liste der aktuellen Themen aus meinem Repertoire.

 

Ich wünsche allen alles Gute für die restlichen neun Monate des Jahres 2023.

Auf Wiedersehen, vielleicht…

Ihre

Suzanne Bohn

 

 

 

AKTUELL in 2023

 

François Cavanna (Gründer von Charlie Hebdo): 100. Geburtstag

 

Sarah Bernhardt: 100. Todestag

 

Françoise Giroud: 20. Todestag

 

Camille Claudel: 80. Todestag

 

Marguerite Yourcenar: 120. Geb.

 

Kiki de Montparnasse: 70. Todestag

 

Françoise Dolto: 115. Geb. + 35. Todestag

 

Flora Tristan: 220. Geburtstag

 

Jacques Brel: 45. Todestag

 

Léo Ferré: 30. Todestag

 

Paul Gauguin:120. Todestag

 

François Rabelais: 470. Todestag

 

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Nächste Auftritte

31. März / Bad Sachsa (Barbara)

22. April / Montabaur (Jacques Brel)

8. August / Schwerte (Françoise Giroud)

15. September / Braunfels (Annie Ernaux)

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