Newsletter 2025 Nr. 2
le 25. Oktober 2025
RUNDBRIEF 2025 Nr. 2
Liebe Freunde der (französischen) Kultur
Die Lehre der Geschichte ist eine sehr ungenaue Wissenschaft, die von der jeweiligen Deutung der Historiker abhängig ist. Der jüngste Fall in Frankreich lässt tief blicken: Zwei eminente Historikerinnen und Akademikerinnen, Michèle Riot –Sarcey und Natacha Coquery, bezichtigten das jüngste Werk vom ebenso eminenten Historiker und Akademiker, Jean Marc Berlière, der zusammen mit dem Ökonomisten René Fiévet ein Buch über die (deren Meinung nach nicht antisemitische) Rolle des Vichy- Regimes herausbrachte, der Lüge, der Fälschung und der Umdeutung von Fakten und landeten vor Gericht wegen Diskriminierung. Sich auf die Meinungsfreiheit berufend, ließ das Gericht die Klage nicht zu. Die Frage bleibt: Was und wen soll man glauben?
Die Biographie, als Historie des Einzelnen, ist ebenso solchen Bewegungen- neuen Entdeckungen, neuen Interpretationen- ausgesetzt, die das, was man glaubte zu wissen, auf einmal kippen können.
Derzeit zeigt eine große Ausstellung im Musée Camille Claudel, in Nogent –sur- Seine (Région Grand- Est), dass die allein in der feindlichen Männerwelt stehenden und gegen Frauenfeindlichkeit kämpfende Bildhauerin Camille Claudel (1864- 1943) gar kein Ausnahme-Fall war. Eine Annahme, die bisher die Runde machte. „Das ist falsch“, sagt die Kuratorin der Exposition, die Kunsthistorikerin Anne Rivière. Die Ausstellung zeigt die Werke von etlichen weiteren Bildhauerinnen aus derselben Zeit, die wunderbare, allerdings völlig vergessene –und niemals richtig bekannt gewordene- Skulpturen hervorbrachten,…. was die These der frauenfeindlichen Rezeption der damaligen Zeit nicht gerade erschüttert..
Unlängst erschien in Frankreich das Buch von Catherine Girard (1962 geb.), der Tochter von Georges Arnaud (1917-1987), des Autoren von „Lohn der Angst“ „In violentia veritas“, erzählt Girard, dass ihr Vater, ihr, als sie vierzehn war, den 1941 begangenen dreifachen Mord an seinem eigenen Vater, seiner Tante und einer Hausangestellten der Familie gestand. Georges Arnaud, eigentlich Henri Girard, geboren 1917 als Spross einer reichen Familie, wurde 1943 in einem Aufsehen erregenden Prozess aufgrund mangelnder Beweise vom Verdacht dieses dreifachen Mordes freigesprochen und beteuerte danach stets seine Unschuld. Die Zweifeln blieben bis heute bestehen. Hatte er oder hatte er nicht? Das war die Frage. Wenn er schuldig war, so büßte er dafür, denn sein weiteres Leben war kein ruhiger Fluss. Sein exzessives, von Rebellion gegen jegliche Willkür, von großem Mitgefühl für alle Verstoßenen der Gesellschaft und politisch Verfolgten geprägtes Leben, sorgte für gegensätzliche Auslegungen bei seinen Zeitgenossen und Biographen.
So schrieb Roger Martin du Gard: „Das gesamte Leben von Arnaud mit seinen Schattenseiten, seinen Turbulenzen, seiner Gewalttätigkeit und seinen Vorurteilen wird von vielen verstanden als das Ergebnis einer uneingestandenen Schuld, die im Untergrund ihn weiterquält und zerstört. Kann es aber nicht sein, dass sie das Ergebnis eines Traumas ist aufgrund einer eklatanten Ungerechtigkeit des Lebens, die ihn den Verlust des geliebten Vaters, den Verlust der Ehre und beinahe das Leben gekostet hat?“. Nun, nach der Offenbarung der Tochter, (die von einigen in Frage gestellt wird), scheint mir die Präsentation der Biographie des Georges Arnaud noch interessanter.
Und noch eine Enthüllung, die richtig schockierend ist: Hervé Bazin (1911-1996) der Autor von „Viper im Würgegriff“, erstem Teil einer Trilogie über seine so feine, so streng katholische, so elitäre Familie, deren Macken hinter der gutbürgerlichen Fassade er erbarmungs-und schonungslos bloßlegt, Hervé Bazin, Präsident der prestigeumrandeten Académie Goncourt von 1973 bis zu seinem Tod 1996, soll alles erfunden haben, soll aus Rache für die Enterbung durch seine Mutter die Familienehre schwer beschmutzt haben. Und enterbt wurde der schwer erziehbare, verhaltensgestörte junge Mann, weil er immer wieder durch kleinkriminelles Verhalten ins Gefängnis, gar in die Psychiatrie kam. Er soll, so die enthüllende Journalistin Emilie Lanez, die am 1. 10. 2025 das Buch „Folcoche“ herausbrachte und Hervé Bazin als Psychopath beschreibt, alles erfunden haben: unter anderem die sadistische Mutter, Folcoche, die zum abschreckenden Modell der Rabenmutter par excellence wurde. Die Rezeau-Familie war eine literarische Referenz für ganze Schulklassen seit fast 70 Jahren über die an sich selbst krankende französische Elite. Ich liebe Hervé Bazin. Die Liebe wird manchmal auf harte Probe gestellt. Ich liebe ihn als Autor. Ich schätze seine schneidende Beobachtungsgabe, seinen scharfen Stil, seine fluide Erzählkunst, seinen bissigen Humor, seine einladende Feder, seine große Bildung. Aber ich habe ihn momentan aus meinem Repertoire herausgenommen, denn ich muss alles überprüfen, ob das was ich geschrieben habe und vortrage, noch Sinn macht.
So, das waren die letzten Neuigkeiten, die von den Veränderungen des Informationsflusses Rechnung tragen. Ich befasse mich aktuell mit der Biographie der Künstlerin Louise Bourgeois (1911-2010), die sehr spät mit 71 Jahren entdeckt wurde und deren faszinierendes, wenn auch schwer zugängliches Werk inzwischen weltberühmt ist: Ein sehr vielfältiges Oeuvre, das essentiell um Kindheits-Er-Innerungen-und Empfindungen kreist, also hundertprozentig autobiographisch ist, dessen Rhetorik im Betrachter unwillkürliche Emotionen hervorruft. Mehr gibt es im beigelegten Text über diese erstaunliche Frau.
In ihrem Fall trifft die geistreiche (unübersetzbare) Bemerkung von Sarah Bernhardt:
„La femme n´est pas un homme comme les autres“
Ich wünsche Euch /Ihnen ein interessantes Jahresende. Bis nächstes Jahr vielleicht
Eure / Ihre Suzanne Bohn.