Jules RENARD
Erzählt von Suzanne Bohn
«Durch den Mensch, der ich bin, wurde ich zum Misanthropen », schreibt der Humorist Jules Renard in seinem Tagebuch. Eigentlich müsste es heißen, „durch den anderen Menschen, den ich auch in mir trug“. Denn Jules Renard beherbergte jenseits seines charmanten, sozialen, lebenslustigen Auftretens, tief in sich verborgen, eine zweite Persönlichkeit, einen dunklen, engstirnigen, kleingeistigen, neidischen und eifersüchtigen, gehässigen alter ego, der ihn daran hinderte, sich mit dem zufrieden zu geben, was vorhanden war und ihn immer wieder dazu trieb, stets nach Höherem, Besserem, Größerem zu streben. Einer der vehementesten Feinde des fundamentalen Pessimisten (außer sich selbst)-und derer hatte er sich im Lauf seines sehr kurzen Lebens viele gemacht- der Schriftsteller Paul Léautaud brachte es nach seinem Tod auf dem Punkt: «Renard war kein glücklicher Mensch, daran war seine Geisteshaltung schuld. Denn Glück ist vielmehr eine Geisteshaltung als das Resultat von Erlebnissen oder Lebenserfahrungen“
Renards Misanthropie nährt sich an seinem chronischen Misserfolg, an seinem Mangel an Imagination, seiner sterilen Feder und seiner Unfähigkeit , mit den erfolgreichen Literaten mitzuhalten. Gemessen an den Giganten der französischen Literatur wie Victor Hugo, Gustave Flaubert, Honoré de Balzac, Emile Zola etc., ist er ein Gartenzwerg. Einzig seine kurzen autobiographischen Erzählungen (er kann nur Kurzes) „L´Ecornicheur“ („Der Schmarotzer“) und „Poil de Carotte“ („Rotfuchs“, auch “Muttersohn“ zu Deutsch), die er erfolgreich fürs Theater adaptieren ließ, sowie seine Tiergeschichten „Histoires naturelles“, wurden zur Lebenszeit ein wirklicher literarischer Erfolg. Wenn ihm das Werkzeug fehlte, um ein großer Schriftsteller zu werden, so war er hingegen mit einer geistigen Klarheit und einer scharfen
Beobachtungsgabe gesegnet, die ihm leider auch schonungslos seine eigenes Versagen permanent vor Augen hielten, was die Untüchtigkeit noch verstärkte .
Dieser circulus vitiosus machte aus ihm einen bösen, rachsüchtigen Menschen voller Missgunst, eben einen Menschenhasser…, der jedoch bei dem kleinsten sich einstellenden Erfolg bereit war, seine Mitmenschen wieder ins Herz zu schließen. An dieser Dualität – diesem Duell zwischen Jules Renard und seiner künstlerischen Schöpfung, Rotschopf mit der Opferhaltung: „Nicht jeder hat das Glück, als Waisenkind auf die Welt zu kommen“- ging er gesundheitlich und menschlich zugrunde.
Doch wenn Jules Renard, der immerhin Mitglied der Académie Goncourt war, heute seinen festen Platz in der französischen Literaturlandschaft hat, dann verdankt er es vor allem seinem posthum veröffentlichten Tagebuch. Eine Sammlung von Aphorismen, scharfen, ironischen und philosophischen Reflexionen über Gott und die Welt, über seine Familie, seine Schriftsteller-Kollegen, kurzum über das Leben, ein schier unerschöpflicher Fundus an Maximen, kleinen und großen Wahrheiten, die heute noch dem Leser einen großen intellektuellen Genuss bereiten.
„Das reicht nicht glücklich sein, noch müssen die Anderen um uns herum unglücklich sein“. „Als Strafe für unsere Faulheit haben wir unsere Misserfolge und obendrein die Erfolge der Anderen“.
Selten hat ein Schriftsteller einen solchen tiefen Einblick wie Jules Renard in den schmerzlichen Prozess des Schreibens, die Ängste des schreibenden Menschen vor dem weißen Blatt gewährt, die finanziellen und die sozialen daraus entstehenden Nöte. Suzanne Bohn befasst sich mit ihrem Vortrag über den berühmten Burgunder auch mit diesem Aspekt der qualvollen Arbeit eines Künstlers.
(*) Dieser Spruch schmückt die Vorderfront eines Hauses in Weimar